Medusa kommt zum Tee

Medusa kommt zum Tee

Wie konnte – trotz Zensur – ein DDR Roman, der voller Tabubrüche steckte, 1983 in der DDR erscheinen, bis 1989 sogar dreimal neu aufgelegt werden? Selbst das Tabu aller Tabus – Literaturzensur – blüht in diesem Roman scheinbar unbehelligt und in bizarrer Schönheit.Der Autor geht drei Jahrzehnte später dieser Frage nach, gräbt sich durch die Aktenberge der Archive, sucht und führt persönliche Gespräche mit seinen damaligen Widersachern, auch mit dem einstigen Oberzensor, dem damaligen Minister Klaus Höpcke. Was der Autor 2014 schließlich zusammentragen und rekonstruieren kann, liest sich wie ein kulturpolitischer Thriller. Die Druckgenehmigung von 1982 war durchaus kein Betriebsunfall des Überwachungsstaates; es war kein Zufall, wenngleich unglaublich viel Glück im Spiel war. Der vorliegende Essay dokumentiert und analysiert die geradezu unglaubliche Editionsgeschichte von Windhahn-Syndrom, eines DDR-Romans, der seinesgleichen immer noch sucht.

© 2014 Winfried Völlger

Medusa kommt zum Tee

Nichts auf dieser Welt ist ohne Voraussetzung. So schlicht dieser Satz sein mag – er führt zu den grundsätzlichen Fragen, zu Göttern und Welten und zu den zwischen ihnen waltenden Verhältnissen. Der Roman Windhahn-Syndrom ist ohne Winfried Völlgers Märchen vom Windhahn undenkbar – nicht nur, weil das Märchen diese geheimnisvolle DDR-Krankheit Windhahn-Syndrom letztlich zu heilen vermag – es bietet den poetischen Schlüssel zur Dechiffrierung des Romans, und es entsteht auch chronologisch weit vor dem Roman. Geschrieben wird es im April 1978, innerhalb von Stunden. Mit dem seltsamen Namen Windhahn für die Titelfigur ist zugleich die gesamte Personage präsent, ebenso Ort und Handlung. Selbst die verwendete Sprache ist mit der handschriftlichen Fixierung bereits vollkommen ausgeformt; spätere kleine Korrekturen betreffen nicht den Ton.

Mit seinem Platz ganz oben auf der Spitze eines Turmes hat der Windhahn, gemessen an den anderen Dorfbewohnern, immerhin den weitesten Horizont. Doch gerade er wird befallen vom Fernweh, mit dem sich wohl auch seine kleine Freundin, die Turmmaus infiziert:

Ich will nicht mehr krähn
auf der Stelle mich drehn
will Welt sehn, die Welt sehn.

Es zieht sie hinaus aus dieser Idylle. Und so geht die Turmmaus, der Nase nach, verschwindet aus dem Text und auf Nimmerwiedersehen. Ein kindlich märchenhafter Vorgang, scheinbar unbedeutend. Und doch vermag er (bereits 1982 erscheint das Bilderbuch) viele DDR-Bürger mitten ins Herz zu treffen, wie 30 Jahre später die Freie Presse Chemnitz feststellen wird. (1)

Quellenangaben, arabisch nummeriert, im Anhang dieses Textes

Zweifellos zeigt sich das Windhahn-Märchen als Schlangen-Ei – wie in Ingmar Bergmans Film erkennt man in ihm bereits das künftige, in allen Details angelegte Reptil. Das Märchen vom Windhahn reflektiert in all seinen Facetten das Dasein in der DDR. Schuld daran ist nicht dieser geschliffene Text, sondern das Land, das sich in seiner ganzen Absurdität darin spiegelt. Der Märchentext ist eine poetische Antwort auf das Dasein, etwas, das – wie alle Poesie – stets das Ganze im Blick hat. Dieses Märchen ist nicht einfach ein Text über die DDR, es ist ein Text über Provinzialismus. Dieser zeigt nicht nur touristische, also geografische und politische Dimensionen, er findet sich in allen Aspekten menschlicher Kultur und überall auf der Welt – wo und wann auch immer man ihn zulässt.

Gleiches gilt für den Roman Das Windhahn-Syndrom, dessen Material sich leicht und reichlich sammelt, indem der Autor zwei Jahre lang den Märchentext wie ein Echolot mit sich und durch den DDR-Alltag führt: ein Gebirge von recherchierten Absurditäten verlangt schließlich nach Form.
Im halleschen Schriftstellerverband wirkt mehr als ein Drittel seiner Mitglieder fleißig als IM, dominiert durch die SED-Parteigruppe (2) hat man den unbequemen Autor – statt ihn unter Kollegen aufzunehmen – seit Jahren in die Isolation manövriert: Der Autor erfolgreicher Kinderbücher, Verfasser von Stücken für Rundfunk und Puppentheater, entwickelt sich zum Einzelgänger, hält sich bedeckt und schreibt.
Zwischen Februar 1980 und März 1981 bringt der Autor seinen Romantext zu Papier. Im April geht das Manuskript per Post an den Verlag, und Hinstorff nimmt das Projekt unter Vertrag. Ein Roman, DDR und Gegenwart. Mehr wissen Außenstehende zu dieser Zeit nicht.
Nebenerfolge gibt es bereits im April 1981: der Kinderbuchverlag akzeptiert das Windhahn-Märchen für ein Bilderbuch, der Rundfunk der DDR bindet sich vertraglich für eine Hörspielfassung, und Trickfilm Dresden kauft die Verfilmungsrechte dieses Schlangen-Eies.
Erst im Juli 1981 gibt der Autor einen Durchschlag seines Romans aus der Hand: an die Kinderbuchautorin, die sich seit Jahren in mütterlicher Art und als IMB Barbara Seidel um den Autor bemüht: Edith Bergner. Ihr verschlägt es die Sprache. Aber ihr Führungsoffizier macht Ferien bis Anfang September. Jetzt erst lässt er sich über das vorliegende staatsfeindliche Manuskript informieren. Und sie fasst den Roman so zusammen: Wer mit ein paar tausend Kilometern Abstand und von den Höhen des Himalaja aus die DDR betrachtet, der kann sich nur noch kaputt lachen. Der Mann will den Text zu eingehender Prüfung mitnehmen. Doch das ist nicht möglich, weil IMB Barbara Seidel sich für denselben Nachmittag mit dem Autor verabredet hat: der Führungsoffizier und der Staatsfeind geben sich an ihrer Haustür buchstäblich die Klinke in die Hand.
Und dann schwärmt IMB Barbara Seidel ihrem Nachwuchsautor vor, wie sehr sie von seinem Text aufgewühlt worden sei. Das müsse sie um jeden Preis noch mal und in aller Ruhe lesen.
Er geht ihr auf den Leim, und in der folgenden Woche klappern in einem abgeschiedenen Büro der Stasi emsig zwei Schreibmaschinen.
Die beiden Schreibkräfte erfüllen ihren Kampfauftrag vorfristig, deutlich früher als geplant liegt das Manuskript wieder bei IMB Barbara Seidel, so, als wäre nichts gewesen.
Als der Autor sich die beiden Klemmmappen bei IMB Barbara Seidel abholt, hat sie sogar noch Zeit für ein paar erläuternde, ermutigende und bestärkende Worte. Inzwischen ist es Mitte September 1981.
In den ersten Oktobertagen entstehen zu diesem Roman drei verschiedene Gutachten, in drei verschiedenen Köpfen, an drei sehr unterschiedlichen Orten:
Der Strafrechts-Experte der Stasi hält den geistigen Gehalt des Materials, welches da auf seinem Schreibtisch liegt, für völlig ausreichend, den Autor mehrere Jahre hinter Schloss und Riegel zu bringen.
Der Literatur-Experte IME Faust, Dr. Rüdiger Bernhardt, Germanistikprofessor der halleschen Universität, (3) liest die Abschrift konspirativ und mit heimlichem Vergnügen, attestiert dem Verfasser hohes literarisches Talent, und er bescheinigt zugleich dem Roman als Ganzes sowie einem Dutzend seiner Details handfeste feindlich-negative, antisozialistische Positionen.
Das dritte – und einzig legale – verfertigt der rostocker Verlagslektor Ulrich Frohriep, auf vier Seiten würdigt er die von ihm erkannten Qualitäten des Textes und kommt am 5. Oktober zu dem Schluss: Wir bitten um Druckgenehmigung. (4)

Am 9. Oktober liegen dieses dritte Gutachten und ein Exemplar des Original-Manuskriptes dem Kultur-Ministerium zu Prüfung vor. Weniger als zwei Wochen später, am 22. Oktober 1981, wird der Roman – per Unterschrift Jörn – genehmigt. (5)
Am selben Tag, da die Druckgenehmigung im Rostocker Verlag den Posteingangs-Stempel erhält, betritt ein betont unauffälliger Herr das Büro des Verlagsleiters, lässt den Cheflektor dazu rufen und legt ein paar Papiere auf den Tisch: ein Exemplar der Manuskript-Abschrift und dazu die Auflistung strafrechtlich relevanter Text-Stellen. So nicht, Genossen!
Cheflektor und Verlagsleiter sind IM, beide parieren, beide werden sich beim nächsten Treffen mit ihrem jeweiligen Führungsoffizier die nötigen Erläuterungen geben lassen.
Auf breiter Front hat die Mielke-Behörde für den Autor – Operativer Vorgang Feder – alle Signale auf Rot geschaltet.
Als das Präsidium des Schriftstellerverbandes im November 1981 in Berlin zusammen tritt, liegt ihm auch der Aufnahmeantrag des Autors vor.
Fast zwei Drittel der Präsidiumsmitglieder sind IM (6), man ist entsprechend instruiert und lehnt den Antrag ab. Ein besonders gut Informierter unter ihnen liefert die geniale Begründung: man wolle doch erst noch das Erscheinen von Windhahn-Syndrom abwarten.

Vom Verlag her lässt man langsam durchsickern, dass es Schwierigkeiten gebe, da oben in Berlin. Bei einem klärenden Gespräch am 15. Dezember im Verlag behauptet der Cheflektor, man habe das Manuskript noch gar nicht zur Genehmigung eingereicht, für einen Text mit so vielen und so gravierenden ideologischen Schwächen sei das völlig undenkbar, der Autor habe da offenbar irgendetwas völlig missverstanden.
Das DEFA-Trickfilm-Studio in Dresden tritt prompt auf die Bremse: das Projekt Windhahn-Märchen als Trickfilm wird einfach ausgebucht.
Aber nicht überall knickt man derartig ein.
Im November 1981 entstehen in einem Studio in der Berliner Nalepastraße die Aufnahmen für eine Hörspielfassung des Windhahn-Märchens, Ursendung ist tatsächlich im Januar 1982.
Auch die Produktion des Bilderbuches kann die Stasi nicht mehr stoppen – es erscheint im Sommer 1982.
Der Autor macht eine Eingabe, wendet sich in einem persönlichen Brief – datiert vom 21.12.81 – an den einzig für ihn noch Zuständigen, den Literatur-Minister, verbindlich im Ton, freundlich und mit der gebotenen Naivität. Dazu muss der Autor sich nicht verbiegen, denn von all dem, was sich da hinter den Kulissen abspielt, wird er erst zehn oder gar dreißig Jahre später erfahren. Der Autor also bittet den Minister mit seiner Eingabe um Hilfe, denn er fühlt sich ausgetrickst, hingehalten und im Stich gelassen.
Die Stasi kann nach der Auswertung dieses Briefes (und zum Abschluss des Jahres-Kampf-Planes 1981) registrieren, dass der Autor vielfach schwer getroffen am Boden liegt.
Aber dieser ist weder handlungsunfähig noch so naiv, wie es in seiner Eingabe erscheint: der gelernte Fotograf geht in sein privates Fotolabor und verfertigt eine Mikro-Verfilmung des Manuskriptes. Ein Negativ und davon ein paar Positive: Je sechs postkartengroße Planfilme beinhalten reproduzierbar den gesamten Romantext; so passt eine vollständige Datensicherung in zwei Standardbriefe zu zwanzig Gramm. Zwei dieser kompletten Verfilmungen bugsiert der Autor – mit Zwirnhandschuhen an den Händen – kommentarlos in vier Briefcouverts. Mit fingierten Absendern versehen gleiten diese in vier verschiedene, gelbe Postkästen und gelangen unbemerkt in den Westen. Ein drittes Exemplar bringt er zu seiner Kollegin IMB Barbara Seidel – zur Sicherheit.
Herbe Erkenntnis für die wachsamen Genossen: wo ein Satz Positive existiert, da gibt es Negative, und wo es Negative gibt, existieren auch – wahrscheinlich – weitere, vielleicht zahlreiche Positive. Viel zu spät also für ein totales Autodafé.

Selbst wenn keiner dieser moralisch blitzsauberen Tschekisten jemals auch nur im Traum daran gedacht haben mag, für einige DDR-Autoren gehört das Folgende in den alltäglichen Spielplan ihrer persönlichen Angst-Schweiß-Kinos:

Auf dem Tisch zwischen dem Autor und dem Vernehmer liegt das Manuskript in allen seinen Exemplaren, das Original und seine seidigen drei Durchschläge, als fünftes noch der Stapel mit den handschriftlichen Entwürfen. Sie haben also alles, denkt der Autor, das gesamte Ergebnis mehrjähriger harter Arbeit. Und eines nach dem anderen wird vor seinen Augen in den Reißwolf geschoben. Ganz knapp bevor der Vernehmer schließlich auch das letzte Exemplar verfüttert, bittet der Verfasser nun doch um Einhalt, erklärt sich bereit, das völlig abstruse Geständnis zu unterzeichnen. Nachdem er mit zitternder Hand seinen Namen aufs Papier gebracht hat, schiebt man – nun aber doch – auch das Letzte noch vor seinen Augen durch den Schredder. Der schreibende Staatsfeind hat Größe: er strafft sich und fragt: Wenn das jetzt alles fort ist, was wollen Sie mir dann eigentlich vorwerfen?
Worauf der Vernehmer grinsend dieses Papier mit dem Geständnis hochhebt und feststellt:
Das hier, das reicht uns völlig aus.

Sieben Jahre später wird der Autor unfreiwillig die Gelegenheit erhalten, im halleschen Roten Ochsen die tatsächlichen Verhörmethoden der Stasi am eigenen Leibe kennen zu lernen; diese sind deutlich weniger spektakulär, dafür aber umso perfider.

Die Eingabe wird vom Ministerium inzwischen ordnungsgemäß bearbeitet. Bei einem Gespräch mit dem Autor (im März 1982) liegt das Manuskript auf dem Tisch und daneben eine drei Seiten lange Auflistung der Probleme. Der Abteilungsleiter stochert planlos im Manuskript und in seiner Liste, und nach zwei Stunden sind sich beide Männer einig: Wenn man all diese ideologischen Mängel berücksichtigen wollte, müsste ein völlig anderes Buch geschrieben werden.

Die Auflösung des Verlagsvertrages scheint unausweichlich, für Ende April wird dazu ein Termin im Rostocker Verlag eingeplant. Doch diese Verhandlung kommt nicht zustande.
Denn die Tage der Kinder- und Jugendliteratur in Halle führen Anfang April 1982 zu einer zufälligen Begegnung zwischen Literatur-Minister und Autor. Der Autor signiert beim Buchbasar seine Kinderbücher, und zwar durchweg mit der Formel: Bücher statt Bomben!
Der Minister schreitet die Stände ab, gelangt also auch zum Autor und fragt nach dessen Befinden.
Beschissen! antwortet der Autor.
Zehn Jahre zuvor ist er als Literatur-Minister angetreten mit dem Credo: Wir machen diesen Wibeau! (7) Er liebt es zu zündeln. Hier, wo es eben beginnt brenzlig zu riechen, spürt er (wie bei diesem Wibeau) eine latente Aufmüpfigkeit, welche ihm von Grund auf sympathisch ist.
Minuten später befinden sich beide in einem spontanen Vier-Augen-Gespräch.
Das Ergebnis ist knapp wie die kostbare Zeit des Ministers: der Minister wird den Roman zunächst lesen, und zwar selbst, indessen der Autor sich weiterhin – bitte – in Geduld übt.

Darüber wird es Sommer. Der Minister will für ein klärendes Gespräch mit dem Autor nach Halle kommen, das ist so seine Art, einem Autor seinen Respekt zu zollen. Die Tageszeit passt, und der Autor hat es inzwischen recherchiert: der Minister ist ein Liebhaber von Grünem Tee. Dass der Autor sich beraten lässt, wie das asiatische Getränk fachgerecht zuzubereiten wäre, gehört zu den schlichteren Vorbereitungen dieses Treffens.

Der Minister kommt also zum Tee.
Wie bei einer Partie Schach sitzen beide im Wohnzimmer des Autors einander gegenüber. Der Minister ist vorbereitet, anders als sein subalterner Abteilungsleiter. Der Minister hat gelesen, das gesamte Manuskript, und nicht nur die von der Stasi aufgelisteten problematischen Stellen.
Ein halbes Dutzend Zettelchen steckt zwischen den Manuskriptseiten: eine Auswahl. Das ist ein gutes Pensum für ein zweistündiges, vernünftiges Gespräch zwischen Männern, die einander ernst nehmen. Diese Auswahl, das Weglassen des Löwenanteils jener Stasi-Stellen-Liste, ist aber dem Minister nicht schwer gefallen: gut die Hälfte, so wird er 30 Jahre später feststellen, sei ja doch Pillepalle gewesen.(8)

Bevor der Minister nach dem ersten Zettel im Manuskript greift, benennt er etwas, das nicht eine einzelne Textstelle, sondern den Text als Ganzes betrifft.
Es ist das überall und immer wieder im Manuskript durchschimmernde latent Absurde, und die Frage lautet: das Leben in der DDR – absurd?
Der Autor begreift, dass er sich darauf einlassen muss, er bestätigt diesen Eindruck als durchaus zutreffend.
Dann aber sagt der Autor, was er für wirklich absurd hält, im Sommer 1982, mitten in Europa:
Während sie beide miteinander reden, werden irgendwo im fernen Sibirien und ebenso in den noch weiter entfernten Rocky Mountains die nächsten drei oder vier Raketen zusammen geschraubt, um die Dinger demnächst herbeizukarren und hüben wie drüben – unweit von hier – in Stellung zu bringen, jederzeit abschussbereit. – Das ist Realität. – In dieser Situation fährt ein Minister zu einem Autor, um mit diesem über ein Manuskript zu verhandeln.
Aber wenn das nicht absurd genug ist – am selben Abend noch wird der eine wie der andere sein Vorschulkind ins Bett bringen und ihm ein Märchen erzählen.
Gezielt, im Wissen um die zu dieser Zeit sechsjährige Tochter, das geliebte Nesthäkchen des Ministers, stellt der Autor abschließend fest: So etwas, Herr Minister, sowas nenne ich absurd.
Der Griff nach dem ersten Zettelchen im Manuskript ist stumme Antwort und zugleich das Eingeständnis, dass dieser erste Punkt an den Autor geht.

Also dies hier – zum Beispiel – kann der Minister nicht ertragen: ein gedachtes oder befürchtetes Sprengstoffpaket am altgedienten Mercedes des Großvaters, welches der vom Leben gegerbte Wilhelm Kornmann als palästinensisches Bonbon bezeichnet.
Der Autor hält dagegen, mit handfesten Argumenten – und der Autor gibt schließlich nach. Für das Verständnis seiner Figur, für den Fortbestand der beklemmenden Szene im Jerusalem der 1970er Jahre ist das palästinensische Bonbon nicht nötig. – Strich.

Das Tabu aller Tabus befindet sich jedoch an dieser Stelle:
Claudia – die Protagonistin des Romans – hat für einen DDR-Verlag ein Stück Sowjet-Literatur übersetzt. Der Höhepunkt dieser kalmükischen Novelle ereignet sich auf einer Roten Fahne, welche von einem jungen Liebespaar deutlich zweckentfremdet wird. So, wie Claudia dieses Ereignis übersetzt hat, will es einer linientreuen Lektorin aber nicht gefallen, weshalb diese ins Auto steigt, zur Übersetzerin fährt und die kulturpolitisch notwendigen Änderungen einfordert.
Die Lage auf dem Schachbrett ist klar: Der Autor hat seine Figur bereits in der Hand, denn nur mit dieser kann er noch agieren. – Und er setzt sie schließlich auf das einzig richtige Feld, macht eben diesen Zug, indem er sagt – nein – fragt:
Wir sind uns doch darin einig, dass man mit Sowjet-Literatur so nicht umgehen kann?
Das ist suggestiv und vereinnahmend. Gegenüber einem Minister ist es eigentlich eine Unverschämtheit. Zugleich weiß der Autor, dass der Minister ein Liebhaber sowjetischer Literatur ist, dass er das eine oder andere Buch sogar auf Russisch im Original liest.
So wird der Minister gefragt, ob denn hier, in dieser beanstandeten Szene, auch er als Zensor gespiegelt wird, oder ob er dazu lieber auf Distanz geht.
Der Minister zögert. Und jede weitere Sekunde dieses Zögerns bestätigt es dem Autor: solche Vorgänge sind in diesem Lande – das weiß keiner besser als der Minister – alltägliche, gängige Praxis.
Zensur.
Die Schere im Kopf, geführt vom vorauseilenden Gehorsam, und zwar von jedermann, auf allen Ebenen dieser sozialistischen Hierarchie.
So funktioniert Zensur.
Er könnte das Brett mit dem gesamten Spiel vom Tisch kippen, die Macht dazu hat der Minister allemal. Er könnte sich gegen diese Darstellung verwahren, aber zugleich würde der Minister damit in die Rolle dieser Lektorin schlüpfen und belegen, dass es genau so ist.
So funktioniert also Zensur.
Auch der Minister hat seine Schere im Kopf, dazu steht er, auch 30 Jahre später noch wird er ihre beiden Klingen benennen: politische Überzeugung und persönliche Verantwortung. Aber vorauseilenden Gehorsam? Den will er bei sich nicht vorfinden.
So funktioniert Zensur.
Das wissen beide. Und schweigen. Minutenlang. Bis schließlich der Minister zum Manuskript greift und weiter blättert.

Am Ende des Gespräches zeichnet sich dann jener Drittel-Mix ab, den sich der Autor als strategisches Ziel gesetzt hat: ein Drittel Zugeständnisse, ein Drittel erfolgreich verteidigt, und ein weiteres Drittel, für das er gründliches Nachdenken und ein mögliches Nachbessern in den nächsten Wochen zugesagt hat.

Vorm Haus ist der Lada wieder vorgefahren. Der Autor bringt den Minister zur Tür.
Und bitte, sagt der Minister, keinen Skandal!
Keinen Skandal, sagt der Autor.
Handschlag.

Übersetzt in die Sprache ministerieller Bürokratie klingt das dann so: Dem Autor wurde ebenfalls empfohlen, in aller Ruhe die Buchveröffentlichung abzuwarten, bevor er oder der Verlag Schritte zu auszugsweisen Veröffentlichungen, Publikationen in ausländischen [d.h. vor allem in westdeutschen] Verlagen oder zu Lesungen aus dem Manuskript unternimmt. (9)

Genau so präpariert man einen künftigen Geheimtipp.
Das Buch erscheint im Sommer 1983, und der Skandal bleibt aus.
Der Text darin erfüllt die Straftatbestände der DDR-§§ 106, 220 und 221.

Aber: ein Buch ist ein Buch ist ein Buch. Jetzt, zwischen Buchdeckeln, versehen mit den höheren Weihen sozialistischer Kulturbürokratie, lassen sich staatsfeindliche Äußerungen nicht mehr ohne weiteres daraus isolieren und instrumentalisieren: der Autor lebt fortan relativ sicher, im Schatten dieses Ministers.
Das Buch erscheint im Sommer 1983, und es ist bei Erscheinen vergriffen.
Abgesehen von drei Rezensionen in literarischen Fachzeitschriften der DDR findet das Buch in der überregionalen Presse keinerlei Beachtung. Eher zufällig und beiläufig kommt es zu einer einzigen Besprechung in den Medien des westlichen Deutschlands: Manfred Jäger präsentiert sie in reichlich zehn Minuten an einem Mittwochvormittag im Deutschlandfunk. Bis 1989 erlebt das Buch vier Auflagen mit insgesamt 40.000 verkauften Exemplaren. Seit 1990 interessiert sich aber auch im Osten Deutschlands niemand mehr für Geheimtipps – der Markt wird beherrscht von Mainstream und Marken.
Nicht zuletzt gilt wohl auch dies: im Windhahn-Syndrom glänzt die DDR als farbenfrohe, absurde und lachhafte Idylle. Jeglicher Windhahn des deutschen Wissenschafts- und Kulturbetriebes weiß es doch aber besser: die DDR war einfach nur grau, beherrscht von Unterdrückern und besiedelt von Depressiven. Für ein Ausmalen dieser klaren Einsicht ist der Romantext nicht zu gebrauchen, Windhahn-Syndrom würde deutsche Leser doch nur unnötig verwirren.

Der allgemeine Diskurs über die DDR-Literatur der 1980er Jahre findet statt, als habe es das Buch Windhahn-Syndrom nie gegeben.

Als Anfang 1993 der amerikanische Germanist Richard A. Zipser immerhin etwa 240 ehemalige DDR-Autoren anschreibt und ihnen seinen Fragebogen: Zensur zuschickt, (10) fällt ihm der Autor von Windhahn-Syndrom nicht ein. Logisch. Denn aufgefallen ist ihm in den zurück liegenden zehn Jahren auch dieser Roman nicht. An seinem Schreibtisch in den USA wird er von Geheimtipps nicht erreicht.

Keinen Skandal bitte, Hand drauf!

Der Außenstehende, wenn er nur eine blasse Ahnung hat vom Wert der knappen Ressource Aufmerksamkeit, der hebt die Schultern und stellt fest: Das ist dann wohl der Preis, vielleicht ein hoher Preis?
Sehr hoch, bestätigt der Autor, viel zu hoch, erst recht mit dem Wissen von heute, aber – ich würde es wieder tun, genau so, und immer wieder.

Und er steht auf, und er legt den Stift beiseite.

Anmerkungen und Quellen


(1) Jähn, Nicole: Ein Bilderbogen Fernweh. In: Freie Presse Chemnitz, 13. April 2013, S. 14.

(2) Walther, Joachim: Sicherungsbereich Literatur. Chr. Links Verlag, 1996 Berlin.

(3) der tatsächliche Stasi-Gutachter war im Falle Windhahn-Syndrom wohl der IM „Köhler“; an der Verhinderung und jahrelangen Verzögerung der beiden darauf folgenden Völlger-Romane „Partitur eines verlorenen Sieges“ (1984, verzögert bis 1989) und „Wehrpflicht“ (1997, verzögert bis 1990) beteiligte sich Rüdiger Bernhardt aber nachweislich mit entsprechenden Geheim-Gutachten als IME (IM im Kampfeinsatz) „Faust“.

(4) Bundesarchiv DR1 (Ministerium für Kultur) 2159a, fol. 463-466.

(5) Ebd., fol. 414.

(6) Walther, Joachim: Sicherungsbereich Literatur. Chr. Links Verlag, 1996 Berlin.

(7) Horn, Christine: Zweistündiges persönliches Gespräch mit dem Autor am 19. Mai 2014 in Berlin.

(8) Höpcke, Klaus: Zweistündiges persönliches Gespräch mit dem Autor am 4 Juni 2014 in Leipzig.

(9) Bundesarchiv DR1 (Ministerium für Kultur) 2159a, fol. 165.

(10) Zipser, Richard A.: Fragebogen: Zensur. Reclam, 1995 Leipzig.

(11) Zipser, Richard A.: Persönliche e-Mail an den Autor vom 17. Mai 2014.

sowie persönliche Aufzeichnungen und Briefwechsel des Autors aus den 1980er Jahren.

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